
Essay | O Jugend, wie bist du so schön!
(Red.) «Lohnt es sich, in der Blase für die Blase zu schreiben?» Stefan Nold, den Leserinnen und Lesern von Globalbridge von einigen anderen Beiträgen her bekannt, macht sich im Rückblick auf sein Leben sehr persönliche Gedanken. Er war immer wieder ein Kämpfer, aber war es auch sinnvoll? Hat es etwas bewirkt? Und wie ist es mit der heutigen Jugend? Sein Aufruf: Habt Mut zum Widerstand! (cm)
Kürzlich lag endlich der DIN-A4 Umschlag mit meinem Rentenbescheid im Briefkasten. Bei nur 88 Monaten mit Pflichtbeiträgen und in etwa ebenso langer freiwilliger Beitragszeit ist das nicht viel. Immerhin: Bald werde ich etwas bekommen, anstatt einzuzahlen. Ob man nun weiterarbeitet oder nicht: Der Rentenbeginn ist eine Schwelle, an der man sich fragt: Wie lang ist meine „Restlaufzeit“ und was fange ich damit an? Für 66-jährige Männer liegt die Lebenserwartung in Deutschland bei 16,5 Jahren; 83 von 100 erreichen das 74. Lebensjahr. Die Wahrscheinlichkeit, dass meine Frau und ich in acht Jahren goldene Hochzeit feiern können, beträgt 0,82 x 0,9* [1] = 0,74, also 74%. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden„, sagt ein Psalm (90,12).
In den vergangenen sechs Jahren habe ich mit vielen Beiträgen in alternativen Medien versucht, unser Land von dem zerstörerischen Kriegskurs abzubringen. [2] Vielleicht hat mein Brief aus dem Jahr 2023 an den Bundesverteidigungsminister [3] dazu beigetragen, dass die Regierung trotz des ganzen Kriegsgeheuls bislang keine Taurus-Raketen an die Ukraine geliefert hat. Aber sonst? Von wenigen Ausnahmen abgesehen singen sowohl der Mainstream als auch die linken oder rechten Alternativen nur die Melodien des eigenen Gesangbuchs. Wenn sich jeder in seine Echokammer zurückzieht, fehlt der anregende Austausch der Argumente. Lohnt es sich, in der Blase für die Blase zu schreiben? Oder sollte man die verbleibende Lebenszeit besser anders nutzen?
Die Stimmung ist seltsam. Die Parteien ähneln sich, manchmal muss man überlegen, wer gerade in der Regierung ist. AfD, Grüne, Linke, BSW und FDP ergeben keine Opposition. Für CDU und SPD ist eh alles alternativlos und alle glauben, nur mit den Ansätzen der Vergangenheit könne man die Probleme von morgen lösen. Es heißt „Prüfet alles und behaltet das Gute“ (1. Thess. 5, 21) und nicht: Behaltet alles, denn alles Neue ist des Teufels. Aber jeder betet immer wieder seine alten Floskeln daher und dreht sich um die Achse der eigenen Selbstdarstellung. Auch Teile der Friedensbewegung agieren so. Sich mit solchen Leuten abzugeben ist sinnlos.
Als wir kürzlich nach unserem Montagsspaziergang zusammenstanden, meinte ein Mitstreiter: „Das ist ja ganz nett, wenn wir uns jeden Montag treffen und uns unterhalten, aber so bewegen wir doch nichts.“ Recht hat er. Noch wache ich morgens mit neuen Gedanken auf, um mit glänzenden Augen gegen Windmühlen zu kämpfen. Aber Don Quichotte wird müde. Es wird Zeit, dass die Jugend übernimmt. Als Aktivist war ich immer dankbar für rüstige Rentner mit Zeit und Geduld. Die Bühne gehört der Jugend – aber die muss mehr draufhaben als ein paar Tattoos. Torsten aus Berlin war über zwei Jahre auf Montage in Darmstadt. In dieser Zeit ist er jeden Montag um 18:00 in Arheilgen bei unserem Spaziergang mitgelaufen, erst gegen die Corona-Maßnahmen, dann für Frieden. Das war immer ein langer Tag für ihn: Aufstehen um ein Uhr morgens, mit dem Auto von Berlin nach Darmstadt fahren, den ganzen Tag auf Montage und abends ist er mit uns marschiert, gesprächig, gut drauf, motivierend, sprühend vor Energie. Es gibt nicht viele wie ihn. Die meisten starren nur auf ihre Smartphones. O Jugend, wie bist du so schön. [4]
Beim diesjährigen Ostermarsch in Fulda habe ich eine Rede gehalten. [5] 200 Stunden habe ich gebraucht, um 2.000 Stunden Arbeit, die in meinem Buch über Frieden [6] stecken, in 20 Minuten wiederzugeben. Zu ergänzen sind einige praktische Hinweise, die ich rückblickend als wichtig für den Erfolg der Aktionen [7] halte, an denen ich in den letzten 30 Jahren maßgeblich beteiligt war:
Wir hatten das Ziel klar vor Augen: Einen Naturbadesee erhalten, eine Straße verhindern. Aber was ist Frieden? Wir wollen „ein Volk der guten Nachbarn sein und werden“ hat Willy Brandt gesagt [8]. Konkret: Wir wollen mit jedem Land in Europa, auch mit Russland, so freundschaftlich verbunden sein, wie mit Frankreich, menschlich, kulturell, wirtschaftlich. Aber… Nix aber Gelaber. Russen und Deutsche müssen wieder Freunde werden!
Wir hatten immer Gegenvorschläge parat. Wer Erfolg haben will, muss die Argumentationsmuster, die einem die Gegenseite setzt, durchbrechen. Kritik darf immer nur der Aufschlag für die eigenen Konzepte sein.
Wir sind auf jeden zugegangen. Einmal waren wir an unsrem Stand und unterhielten uns. Meine Frau kam dazu. „Was macht ihr?“ – „Wir sammeln Unterschriften.“ Sie nahm sich ein Klemmbrett, ging auf einen Passanten zu, sprach mit ihm und nach kurzer Zeit stand der erste Name auf der Liste. Später war ich fast süchtig danach, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Heute, in unseren aufgehetzten Zeiten, wo schon so viele Freundschaften an Corona zerbrochen sind, ist die Hemmschwelle viel höher, aber da muss man durch.
Kosten sind ein Killer-Argument. Die Talkshow-Toreros können reden wie sie wollen, wenn das Volk sagt „Brauche mer ned!“ ist Ende Gelände. Bald soll jeder zweite Euro im Bundeshaushalt fürs Militär drauf gehen. Wer soll dafür bluten? Die Wirtschaft schrumpft; der Kuchen wird kleiner, aber das Militär will ein doppelt so großes Stück haben. Nicht gut.
Wir haben uns um wichtige Mitspieler bemüht. Bei einer Aktion war das die Ortsgruppe Darmstadt des BUND. In ähnlicher Weise müsste eine Friedensinitiative jetzt auf die SPD-Leute zugehen, die das Manifest zum Frieden [9] initiiert haben. Man darf nie vergessen: Auch Alt-Prominente stehen zehnmal mehr unter Beobachtung als einfache Aktivisten, die frei reden können, ohne auf irgendwelche Befindlichkeiten Rücksicht nehmen zu müssen.
Wir haben uns nie vereinnahmen lassen. Einmal wollte man uns in einen „Beirat“ zu dem Straßenbauprojekt locken, das wir nicht wollten, mit Sitzungen, leckeren Häppchen und so weiter. Hätten wir uns da beteiligt, wären wir als Straßenbegleitgrün geendet.
Wir waren immer gut vorbereitet, hatten alle Zahlen und Studien im Kopf. Eine Initiative, die sich auf ein Thema fokussieren kann, ist gegenüber Parlamentariern, die jeden Tag Stöße von Papier zu den unterschiedlichsten Themen sichten müssen, im Vorteil. Kompetenz macht Eindruck, besonders, wenn sie den Kontrahenten fehlt.
Wir haben unsere Worte sorgfältig gewählt. Wenn wir als ewig gestrige dargestellt wurden, war unsere Antwort: Unser Konzept ist die Zukunft! [10] Immer wieder. Mit Erfolg.
Wir haben uns etwas einfallen lassen. Eine pfiffige Aktion ist besser als tausend Seiten Papier. Wir haben damals die Bäume, die für die geplante Straße gefällt werden mussten, mit Trauerflor umwickelt. Jetzt muss das Grauen des Krieges plastisch-drastisch in die Köpfe hinein, ebenso wie die brutalen Kürzungen hier bei uns, mit denen er erkauft wird.
Wir waren mit Herzblut dabei. Die Leute haben das gespürt. Ja, keine Perspektive ist so schön wie die Retrospektive. Bei jeder Aktion haben wir uns auch kräftig gezofft. Das geht nicht spurlos an einem vorbei – aber es war die großartigste Zeit meines Lebens.
Also: Habt Mut zum Widerstand. Es ist gar nicht so schwer, all den aufgeblasenen Wichtigtuern die Stirn zu bieten. Sicher, junge Eltern oder pflegende Angehörige haben andere Sorgen, manche haben im Beruf schwere Aufgaben zu lösen, aber wenn man bedenkt, wie sehr sich die Menschen in virtuellen Welten und Netzen verheddern und so ihre wertvolle Lebenszeit vergeuden, dann ist engagierter Einsatz für Frieden und eine bessere Welt eine wunderbare Alternative. Als Rentner helfe ich gerne mal aus, aber machen müsst ihr jetzt.
Oh Jugend, wie bist du so schön.
Anmerkungen:
[1] Die Überlebenswahrscheinlichkeit ist für Frauen und Männer unterschiedlich. Jedes Jahr stirbt bei etwa 3 von 100 Paaren über 65 Jahren mindestens einer der Partner. Aus den Sterbetafeln des Statistischen Bundesamts für 2021/2023 ergibt sich die unten stehende Tabelle. Das Produkt aller Wahrscheinlichkeiten ist die Wahrscheinlichkeit für das Paar, nach Ablauf des Betrachtungszeitraums noch am Leben zu sein. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/Tabellen/_tabellen-innen-lebenserwartung-sterbetafel.html (Sie dazu unten die Sterbetafel)
[2] 2.1 https://overton-magazin.de/author/s-nold/ 2.2 https://globalbridge.ch/author/stefannold/ 2.3 https://www.manova.news/autoren/stefan-nold 2.4 https://humane-wirtschaft.de/beitraege/autoren/stefan-nold/ 2.5 https://zgif.ch/
[3] Nold, Stefan (16.9.2023) Brief an den Minister für Verteidigung. Veröffentlicht unter der Überschrift: Glasige Augen. Kapitel III.4, S. 55 in [6]
[4] Reutter, Otto (1929) O Jugend, wie bist du so schön. https://www.otto-reutter.de/index.php/couplets/texte/60-o-jugend-wie-bist-du-so-schoen.html https://www.youtube.com/watch?v=Y1HZpcNHuhU
[5] Nold, Stefan (19.4.2025) Frieden! Muss! Jetzt! Transkript unter 2.1, 2.2 und 2.5.sowie unter https://www.friedenskooperative.de/ostermarsch-2025/reden/stefan-nold-fulda Video abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=Ko0LLm7mTRU&t=4s (Minute 11:00 – 30:00) eingestellt von: https://friedensforumosthessen.de/
[6] Nold, Stefan (20.7.2024) Kein Frieden – keine Zukunft. Schlagt Brücke und versteht eure Feinde. https://overton-magazin.de/wp-content/uploads/2024/07/Nold-KeinFriedenKeineZukunft-24720sN.pdf
[7] Nold, Stefan (2012) Veränderung selbst gemacht, S. 103 – 112. Veränderung von unten in Beispielen, S. 190 – 196 in: Beerdigung Reifenwechsel Hochzeit. Geschichten zum Nachdenken. Justus von Liebig Verlag: Darmstadt.
[8] Brandt, Willy (28.10.1969) Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag in Bonn. https://www.willy-brandt-biografie.de/quellen/bedeutende-reden/regierungserklaerung-vor-dem-bundestag-in-bonn-28-oktober-1969/ Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung d.ö.R.: Berlin.
[9] Erhard-Eppler-Kreis (11.6.2025) Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit. https://www.erhard-eppler-kreis.de/manifest/ https://www.openpetition.de/organisation/erhard-eppler-kreis
[10] Nold, Stefan (21.3.2007) „Eine unbequeme Wahheit.“: Unsere Vorschläge: Straßenbahn vom Ostbahnhof in die Innenstadt… Durchgehende und sichere Radwege … Eine ausreichende Zahl von Fahrradstellplätzen muss bei jedem Neubau Pflicht sein… Preiswertes familengerechtes Bürgerticket für das gesamte Stadtgebiet…Pendlerparkplätze am Ostbahnhof… Aktion Fit mit Fünf: Wer fit ist, läuft Strecken bis 500 Meter zu Fuß und fährt Wege bis fünf Klilometer mit dem Rad… Mit diesen Maßnahmen schaffen wir keine zehn Prozent Verkehrsentlastung, sondern 30 Prozent – und das ohne Stau und Schikane. In diesem Jahr hat der Titelsong des Films „Eine unbequeme Wahrheit“ über den Klimawandel den Oscar gewonnen: „I need to wake up.“(T)Raumschiff Darmstadt, guten Morgen. Die Zukunft ist ONO (Name der BI Darmstadt ohne Nordostumgehung) Frankfurter Rundschau: Frankfurt.